Unterwegs im Herzschlag fremder Biographien – Der Künstler Joachim Jung

Licht und weit ist das Atelier, Raum greift in Raum, die Türen sind ausgehängt. Bilder über Bilder, Bücher, Arbeitsmaterialien auf den Tischen, an den Wänden, gesammelt und geordnet in vielen Schubläden, Farben schwingen, Erdtöne, zarte Gelb- und Grünnuancen, die Farbe Blau in vielen Schattierungen scheint zu überwiegen. Die Magie des Ortes, in die der Besucher eintaucht, führt tief hinein in den kreativen Prozess der Bildwerdung. Hier wird gezeichnet und gemalt, geschrieben, geforscht und experimentiert.

Der ‚Spurensucher‘

Oft wird der 1951 geborene Künstler Joachim Jung ‚Spurensucher‘ genannt. Nach seinem Studium an der Kunstakademie in München und einer Lehrtätigkeit am Lehrstuhl für Kunsterziehung an der Universität Passau, entschied er sich Mitte der achtziger Jahre für die Existenz als freischaffender Künstler. Der Hang zur Forschung blieb, akribisch beschäftigt er sich vor allem mit Autoren und Malern, die zu Fuß unterwegs sind. Seume, Hölderlin, Caspar David Friedrich, Rimbaud, Jean Paul, nur um einige zu nennen. Er gehe ihre Wege nach, gegenwärtig, in aufmerksamer Betrachtung des Weges, im Rhythmus der Schritte nach innen wandernd, berichtet Jung in einer Selbstbeschreibung. Die Dialektik des Gehens interessiere ihn, sei ihm vertraut von eigenen Wanderungen. Im Laufe der Jahre entstanden große Zyklen wie etwa zu Van Gogh, Henry David Thoreau oder dem Autor Hermann Lenz. Bildtitel wie ‚Der Maler unterwegs‘ oder ‚Zwischen drinnen und draußen‘, ‚Landschaft und Gedächtnis‘, ‚Die Dachstube‘ werden zu Bildfolgen wie dem ‚Jean Paul’schen Bildersaal‘, den Joachim Jung erst kürzlich im Sommer 2013 in der Galerie im Schlossmuseum Ismaning ausstellte. Literatur und Malerei begreift Jung als ‚Parallelwelten‘, man meint in den Bildern lesen zu können wie Jean Paul schrieb: „Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten aus den Stuben, über die Sterne“. Unterwegs in ‚imaginären Räumen mit Echos‘, nirgendwo ankommend, in Welten, die sich übereinander schieben, aufeinander projizieren.

Vielschichtige Denk- und Farbwelten

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Foto: Heidi Fenzl-Schwab // Joachim Jung bei der Installation der Gedenktafel für die Familie Mann auf dem Waldfriedhof 2003

So arbeitet Jung auch als Porträtist. Intensiv liest und arbeitet er sich ein in vorliegendes Material der jeweiligen Biographien und Lebenskontexte. Literarisch Interessierte stoßen auf Stationen des Gedenktafelwerks, das Joachim Jung zu Thomas Mann und seiner Familie im Auftrag des Thomas-Mann-Forums München geschaffen hat wie etwa die Gedenktafeln am Haus in der Franz-Joseph-Straße 2. Die Porträts des Ehepaars Mann und ihrer Kinder in zarten Farben auf Glas werden an der Wand zum Schattenspiel. Eine Textcollage und ein Foto des historischen Hauses schaffen einen berührenden Ort der Erinnerung an den berühmten Autor, den man mit seiner Familie aus München vertrieb. Wieder entdeckt wurde auch das aufgelassene Familiengrab der Manns auf dem Waldfriedhof (WAT 12-W-20), dem ein eigenes filigranes Glastafelkunstwerk gewidmet ist.

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Foto: Heidi Fenzl-Schwab // Die Gedenktafel für das Grab der Familie Mann auf dem Waldfriedhof

Vielfältig sind die Ausgangsmaterialien der Bilder. Fotos, Naturmaterialien, Texte, eigene Vorarbeiten werden in die Gegenwärtigkeit der jeweilig entstehenden Kunstwerke montiert, hineinzitiert. Die einzelnen Werke eines Zyklus korrespondieren in ihrer Bildsprache über die Zeiten hinweg. Joachim Jung denkt kritisch und analytisch in aktuellen und historischen Bezügen, verdichtet Zeit- und Denkräume, leistet – wie Wieland Schmidt einmal schrieb – ‚Arbeit an der Erinnerung‘. Er schuf so vielschichtige Collagen, großformatige ‚Zettelbilder‘, wie er manche seiner Montagen nennt, oft kann man sie lesen wie Erzählungen. Im Laufe der Jahre änderten sich die Techniken, die Bildwelten wurden heller, die Materialien weniger collagiert als in die eigene Bildwelt der Zeichnung und Malerei überführt. Wichtig für die Veränderung der Arbeitsmethoden ist seine Beschäftigung mit Joseph Fraunhofer und dessen Forschungen auf dem Gebiet der Optik und Farbspektren, den fraunhoferschen Linien im Sonnenspektrum. In der Folge entstanden große Glasarbeiten im öffentlichen Raum wie die ‚Joseph-von-Fraunhofer-Treppe‘ in der Stadthalle Straubing und die ‚Sieben Jenaer Optiker‘ in der Fachhochschule Jena. Einen Höhepunkt findet diese Richtung der Arbeiten in den 36 Fenstern auf 80 Metern Länge der großartigen ‚Linde-Partitur‘ für die Fassade der Linde-Zentrale in München. Seit 2006 betrachte, fotografiere und zeichne er ‚Luft‘, berichtet Joachim Jung, die Bewegung der Farben auf dem Malgrund beschäftige ihn bei wechselnden Luftdruck- und Temperaturverhältnissen bis hin zu extremer Kälte in den Glasfenstern des Linde-Hauses: „Es regnet blauen Sauerstoff aus Stickstoffwolken, als hätte William Turner aus dem Jupiter aquarelliert.“

Und immer wieder: Paul Klee

Ein Künstler, der sich schon früh, vorgeprägt durch die Farbmalerei und Theorien Delaunays, und besonders durch das Erlebnis der Tunisreise mit der Brechung der Gegenstandsformen durch die Wellenlängen des Lichts beschäftigte, ist Paul Klee. Ihn schätzt Jung wie keinen anderen. Auf dessen Spuren, denen Mackes und Moilliets unternahm er eigene Tunesienreisen, auch ihn überwältigte die Farbenwelt wie 1914 Paul Klee. In diesem ganz besonderen Licht forschte er weiter, auch in der Betroffenheit darüber, wie der 1. Weltkrieg die Wege der Künstler, die Internationalität der Avantgarde unterbrach. Im Zentrum des Interesses stand zunächst August Macke, von dessen ‚letzter Reise‘ ein großes Historienbild in gedämpften Farben wie auf den alten Photographien aus Mackes Fotoalbum, das Jung einsehen konnte, erzählt.

Besonders fällt in seinem Werk eine in vielen Formen wiederkehrende Haussilhouette auf. Es ist die Brandmauer des ehemaligen Hauses, in dem Klee viele seiner Münchener Jahre mit der Familie verbrachte. In Gesprächen mit Felix Klee, dem Sohn des Künstlers, mit dem Jung freundschaftlich verbunden war, wurden die Lebensbereiche rekonstruiert. Intensiv studierte Jung auch das Tagebuch Klees. Jahr für Jahr der Münchner Zeit schreiben sich fort in 24 Stationen einer eigenen Bilderfolge, die filigrane Grafiken und Malereien mit Textcollagen verbindet. Um Schlüsselbegriffe aus dem Tagebuch hat Joachim Jung nach einem strengen Formprinzip Worte Klees extrahiert und neu kombiniert. Sie werden ihrerseits zu Prosagedichten. Im Zentrum des poetischen, bildnerischen Werks: Das Herz.

Heidi Fenzl-Schwab, 2016

Dieser Beitrag erschien in veränderter Form zum ersten Mal im Münchner Feuilleton, Dezember 2014 / Januar 2015